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Der Mensch vor der Wand/Die Bilder des Meisters HCB


Prosper Duprees

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Klappentext: ‚...die bisher umfangreichste Publikation ... in einhundertfünfundfünfzig vom Meister selbst ausgewählten Bildern ...’

(HCB, Die Photographien, München 1992/Originalausgabe Paris 1979)

 

1979 war Henri Cartier-Bresson 71 Jahre alt und hatte sich bereits seit fünf Jahren der Photographie ab- und seinen Zeichnungen zugewandt.

Von sechzig Jahren Photographie und womöglich zwei Millionen Negativen bleiben also rund 150 Aufnahmen und man darf davon ausgehen, dass diese Auswahl nicht willkürlich und auf die Schnelle, sondern mit Bedacht getroffen wurde, als Erbe und Vermächtnis.

(Könnte es sein, dass er an seinen besten Fotografien, weil verkauft, keine Rechte mehr besaß und daher Zweit- und Drittklassiges Eingang fand?)

 

Die ‚Photographien’ sind also Rückschau auf eine Lebensleistung und ihre Zusammenstellung nicht nur ein repräsentativer Werküberblick, sondern sicherlich Essenz, Kondensat, Destillat. Alles, was der Fotograf zu zeigen, mitzuteilen hat, muss in diesen Bildern enthalten sein.

‚Photographieren ist eine Lebensart’ sagt der Meister und dieses Leben muss in den Bildern aufscheinen.

 

Nun, was fällt auf?

 

Im letzten Bild im Katalog, Tafel 155, ist die Mauer eine Stoffleinwand, die etwas verbirgt, dessentwillen wir bemüht sind, einen Blick hinüber, hindurch zu werfen und ob dieser Vergeblichkeit wenden wir uns in ein fahles Diesseits, halbherzig, notgedrungen und widerwillig.

 

Es sind wenige Typen, die HCB fotografiert hat und von den wenigen der häufigste:

Ein Mensch vor einer Mauer.

 

Es gibt in diesen Bildern keinen Hintergrund.

Die Mauer ist manchmal ein Bretterzaun, eine Holztafel, löchriges Ziegelwerk, feuchte, schimmelige Zimmerwand, meist aber Beton, bröckelnder Putz, rissig, verkommen, verödet, fleckig von abgeblätterter, nie nachgeweißelter Farbe; immer undurchdringlich, unüberwindbar, und der Mensch ist daran heimisch geworden und scheint zu sagen: Dies ist mein Zuhause, aber ich gehöre nicht hierher; und rennt aus dem Bild, so schnell er kann.

 

Allgegenwärtig ist die Mauer.

Der Mensch steht meist direkt davor, lehnt sich an oder läuft daran entlang.

Immer ist es Tag, die Kulisse immer schäbig, schmutzig, heruntergekommen, im Zerfall.

Kein einziges Bild, in der ein Abgelichteter seinen Blick, wie ein Tourist, staunend erheben würde in einem Interesse, einer Bezogenheit, einer wie auch immer gearteten Verbindung zu seiner Umgebung. Der Mensch ist ein Übergang, fern jeglicher Nähe ist er, ein Abwesender, ein Durchgänger, ein Hinwegschreitender, in Eile, als gälte es, Ort und Bild schnellstmöglich zu verlassen.

Man vermisst die Mädchen, die Frauen, den soliden Bürger, den selbstüberzeugten Bourgeois, den Mann der Tat.

Überhaupt erschließt sich das Werk eines Fotografen eher aus dem, was er nicht zeigt, aus dem, wovon er sich kein Bild macht.

 

Der zweite Typus ist der Platz, meist von oben herab und immer mit wenigen Gestalten, die sich hinweg bewegen, als wären sie imaginär und als verliefe sich ihr Weg in unabänderlichen Bahnen, die sich begegnungslos kreuzen.

 

Der dritte Typus ist der erschöpfte Mensch. Hier ist die Mauer Grund und Boden, auf dem einer liegt; Gras, Stein, Teer und es sieht aus, als läge er wie tot und als gäbe es in seiner Ermattung nichts, woran er sich wieder in die Höhe bringen könnte. Das Liegen ist kein Ruhen. Es ist ein Darniederliegen und es ist endgültig.

 

Der vierte Typus ist die verödete, nichtssagende Landschaft, angesiedelt in einem Irgendwo und gäbe es nicht die Bildlegende, zumeist nur ein lapidares ‚Schweiz, 1979’, so könnte man viele Aufnahmen nicht einmal geographisch zuordnen. Die Landschaft zeigt den daraus entfernten Menschen. Er muss dagewesen sein, man sieht Spuren und Zeichen und fürchtet, er kommt zurück.

 

Der fünfte Typus sind Gruppenaufnahmen, mehrere Menschen an einem Ort, gerne von höherer Warte aus fotografiert und gerne vor irritierendem Hintergrund, sozusagen vor doppelter Mauer und gerne darin mit einem, der nicht dazugehört und dem die anderen fensterlose Wand sind ohne Tor.

 

Der sechste Typus zeigt wenig schmeichelhafte Porträts von Berühmtheiten, vornehmlich Literaten, die kein Verlag als Werbung nutzen würde, weil bar jeder Illusion.

 

Der siebente und letzte Typus ist das Anekdotische. Schweine, die über den Tellerrand blicken, ein Briefträger, der unter einem Baum pausiert und keine Hetze scheint ihn zu treiben (...sollte man mal den UPS-Leuten zeigen...), kopulierende Hunde, Jesus auf einem Schrottplatz.

Manchmal witzig, zumeist traurig, weil sie eine Welt zeigen, die es nicht mehr gibt.

 

Auf sehr vielen Bildern erkennt man einen weiteren Typus im Typus, nämlich den buchstäblich aus der Ordnung Herausgefallenen, der unbemerkt abhanden Gekommene, der nicht Zugehörige, ein Randständiger, Abseitiger, ein in der Menge Unsichtbarer, ein noch nicht entfernter Fremdkörper.

 

Man muss sich vergegenwärtigen, was alles diese Photographien nicht sind – ihnen fehlt das Gelackte, das Künstliche, alle Effekthascherei, die Sensation, alle Gier eines Marktes, der Leser wie Medium gleichermaßen umgriffen hat – um sie in ihrer Tiefe würdigen zu können.

 

Man betrachte auch die Gesichter, nirgends ein befreites Auflachen, ein Lächeln, allenfalls bei einem Kind, der Rest ist verschlossener Ernst, erstarrte Trauer und müde Hoffnung, blickloses Schauen. Der gebückte Mensch.

 

Fast allen Bildern ermangelt ein Du. Kein Aufeinanderbezogensein, keine gemeinsame Arbeit, kein wirkliches Miteinander, nur bloßes Gerichtetsein auf ein unsichtbares Ziel, das vermutlich gar nicht existiert. Man nimmt keinerlei Notiz voneinander, lebt in Parallelität selbst dort, wo man gemeinsam steht und geht.

 

Eine blassgraue Welt und darin der Mensch, ziellos oder zielstrebig, beides einerlei, denn wo will er denn hin mit sich.

 

Man findet bei HCB keinen Kuss, schon gar keinen inszenierten.

Die ganze Verbrüderung des Menschen, der Schwulst überhöhter Idealität, das Sehnsuchtsgebräu, das uns zum Sklaven der eigenen Sentimentalität macht, wird vollständig übergangen.

 

Aber, nirgendwo wird der Mensch entblößt, zur Schau gestellt, nie dient er als Folie für Gefühlsaufwallung, nie wird er fotografischer Interessen wegen instrumentalisiert, was so viele WorldPressPhotos über das gezeigte Grauen hinaus doppelt grausam erscheinen lässt: Not, mit fünf BuntBildern/sec. abgeknipst. Wenn von Würde zu reden ist, dann hier.

 

Es ist der Segen der Photographie, dass man in ihren Bildern mehr sehen kann, als man jemals mit offenen Augen erblicken könnte.

Aber dazu braucht man Photographen wie Henri Cartier-Bresson.

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Prosper,

dein Schreibstil erinnert mich an die "Bunte Illustrierte". Da sind die wichtigen Wörter auch immer hervorgehoben. Finde ich sehr angenehm.

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Prosper,

dein Schreibstil erinnert mich an die "Bunte Illustrierte". Da sind die wichtigen Wörter auch immer hervorgehoben. Finde ich sehr angenehm.

 

 

Wir sollten nicht über den Fettdruck einzelner Worte spotten, sondern dankbar sein, daß Prosper seinen Text nun in Absätze untergliedert (also keinen Fließtext wie früher) und auch in der Wortwahl an das Leseverständnis denkt. Dafür Dank.

 

Ob man die Aussage in dieser epischen Breite benötigt, muß jeder für sich selber entscheiden. Meine Meinung: Wer viel schreibt, drückt sich entweder vor einer klaren Aussage oder hat die Kernaussage, das Problem oder das Thema nicht erkannt.

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Ja, der Prosper scheidet die Geister. Ein Forum (oder auch Mails, SMS etc) führen in der Regel zu kurzen, schlagwortartigen Statements. Insofern sind Prospers Beiträge wohltuend anders - man muss sich allerdings Zeit nehmen.

 

Die Analyse der Bilder von HCB ist scharfsinnig. Manches teile ich, manches nicht. Das ist in so einem Rahmen wie hier schwer zu diskutieren, aber ein Gespräch mit Bildern dabei wäre sicher sehr interessant. Eines sei aber hier gesagt: Die Analyse vermittelt über große Strecken unausgesprochen den Eindruck, die Fotos von HCB wirkten düster, depressiv oder wenig lebensbejahend. Falls dieser Eindruck richtig sein sollte, so würde ich Prospers Meinung nicht teilen - jedenfalls sind das Gefühle, die ich mit den Fotos (von Ausnahmen natürlich abgesehen) nicht assiziiert habe. Vielleicht waren sie aber von HCB vielfach beabsichtigt, der nach meiner Einschätzung aus zwei langen Interviews, die ich gesehen habe, selbst ein recht melancholischer, feinsinniger Mensch war.

 

Gruß Elmar

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Guest menze_h
Könnte es sein, dass die Kussfotokenner das berühmte Bild

von Robert Doisneau meinen?

 

gruss

 

hg

 

Gemeint ist dieses:

 

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von Henri Cartier-Bresson

 

Es gibt übrigens noch GANZ andere Bilder von diesem Fotografen ;-) Aber das werden die Kenner ja wissen...

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Sagte Bresson nicht auch "Über Fotografie gibt es nichts zu sagen, man muss hinsehen"?

 

Ich finde diese Einteilung der Fotos in Kat. 1 bis 7 nicht scharfsinnig sondern eher krämerhaft.

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